www.zum-letzten-geleit.de Die virtuelle Kneipe

Home » Archives » November 2004 » Advent, Advent, die Zunge brennt

[Previous entry: "Noch einer zum Wochenende"] [Next entry: "A happy new year"]

11/29/2004: "Advent, Advent, die Zunge brennt"


Aus der Sonntags F.A.Z, ein wahrer (!) Artikel zum Thema Glühwein

Es ist ein Rätsel: Warum nur stellen sich kultivierte Menschen auf Weihnachtsmärkte und schütten Glühwein in sich hinein?

Schon seltsam: Menschen, die gern gut essen, zu Hause nur mit frischen Zutaten kochen und über einen wohlsortierten Weinkeller gebieten, stehen unter ihresgleichen und schütten eine süße Plörre in sich hinein, die sie normalerweise auf dem Sondermüll entsorgen würden. Doch stattdessen trinken sie das Gebräu freiwillig, jeden Winter aufs neue. Zwischen sechzig und siebzig Millionen Liter Glühwein konsumieren die Deutschen jährlich, und sie tun es meist auch noch in einer abscheulichen Umgebung. Nämlich inmitten aus Holzbrettern und Spanplatten zusammengeschraubter Häuschen, die in deutschen Fußgängerzonen herumstehen und ihren Energiebedarf mittels dicker Kabelstränge decken, über denen wiederum dicke schwarze Gummimatten liegen, damit keiner drüber stolpert. Das ganze nennt sich dann "Weihnachtsmarkt".
Weihnachtsmärkte haben durchaus Tradition, der Münchener etwa feiert 2006 sein zweihundertjähriges Bestehen. Waren sie früher eine Art Jahrmarkt, also ein willkommener Anlaß zum hemmungslosen Fressen und Saufen, sind sie genau das bis heute geblieben. Der dort reflexhaft zu sich genommene Glühwein stammt wohl ursprünglich aus Indien, wo er einst mit Wasser, Weingeist, Zucker und Gewürzen zubereitet und erhitzt wurde - also eher eine Art Punsch. Die britischen Kolonialherren importierten das Rezept im 18.Jahrhundert nach Europa, irgendwann mischte jemand Rotwein dazu, fertig war der Glühwein - angeblich passierte das zum ersten Mal auf dem Nürnberger Weihnachtsmarkt. Etwa in der Mitte des 17.Jahrhunderts, wahrscheinlich anno 1628, soll auch der Vorläufer des heutigen Christkindlesmarktes entstanden sein, noch älter ist der Dresdner "Striezelmarkt", der auf ein Privileg des sächsischen Kurfürsten FriedrichII. von 1434 zurückgeht.
Schon früh hielt auf Weihnachtsmärkten die Sitte Einzug, Kunstgewerbsgegenstände wie Erzgebirgische Schnitzereien in Form von Weihnachtspyramiden, Krippenfiguren, Heilands-Mobiles sowie anderen Tand anzubieten, und zwar stets in seltsamen grünen Häuschen, an denen sich grundsätzlich zu viele Kunden drängeln. Hinzu gesellen sich nach guter alter Sitte allerlei Verkäufer von Blechspielzeug und von getrockneten Spinnen und Riesenkäfern. Auch die von chinesischen Kindern gedrehten Bienenwachskerzen aus "Handarbeit im Nachbarschaftsheim" sind längst echte Weihnachtsmarkt-Klassiker, ebenso wie die liebevoll gestrickten Wollpullover aus vietnamesischen Sweatshops.
Zum gastronomischen Personal eines jeden Weihnachtsmarktes wiederum gehören unbedingt alte Frauen in Ärztekitteln mit furchteinflößenden Oberweiten, die frittierte Stücke irgendwelcher Fischreste auf hellgraues Packpapier klatschen, Würste aus Thüringen oder Pferden braten - wobei ihnen dabei meist sehr schlechtgelaunte Männer oder altkluge zwölfjährige Jungs zur Hand gehen. Dies alles sei nur erwähnt, um zu verdeutlichen, unter welch widrigen Bedingungen die Menschen zum Glühwein greifen. Man könnte auch sagen: Auf Weihnachtsmärkten dient Glühwein nicht dem Genuß, sondern der Betäubung. Insofern spielt es auch keine Rolle, ob der Konsument seinen Wein sonst von Winzern bezieht, die im Weinberg dreiviertel ihrer Trauben abschneiden und sie auf dem Boden verrotten lassen, nur damit ihre Kunden zwei Jahre später von den ertragsreduzierten und handverlesenen Gewächsen faseln können.
Weihnachtsmarkt-Glühwein ist dabei nicht von gleichbleibend schlechter Qualität, es gibt ihn durchaus in unterschiedlichen Kategorien: angefangen bei "widerlich" bis hin zu "gesundheitsgefährdend". Wenn wir Glück haben, sind nur Nelken, Zimt und Koriander drin, andere Anbieter kippen noch Orangensaft vom Discounter rein, wieder andere greifen gleich zur Fertigmischung mit Kopfschmerz-Garantie aus dem Tetrapak. Die Gerstacker-Weinkellerei aus Nürnberg, die den "Christkindles Markt"-Glühwein herstellt, verweist darauf, daß seit mehr als dreißig Jahren in unveränderter Rezeptur nur Zutaten zum Einsatz kommen, "die auch in den altüberlieferten Lebkuchenrezepten zu finden sind, wie Anis, Kardamom, Macisblüten, Muskat, Nelken, Orangen- und Zitronenschalen, Piment und Zimt". Natürlich auch Zucker und Rotwein. Glühwein-Hersteller Gerstacker gibt an, für den "Christkindles Markt" nur hochwertige Sangiovese- und Merlot-Trauben aus Italien zu verwenden. Die Flasche Glühwein kostet um die zwei Euro, Hauptmarkt sei Deutschland, der Rest gehe nach Österreich, Japan oder Amerika.
Der Fernsehsender "Vox" ließ vor zwei Jahren fünf Fertigglühweine und 16 Glühweine von den Weihnachtsmärkten in Dortmund, Bochum, Essen und Mönchengladbach testen. Das Ergebnis des beauftragten Weinlabors war wenig berauschend: Bei drei von fünf Supermarkt-Proben ermittelten die Tester einen geringen Extrakt-Gehalt, so daß bereits der Grundwein sehr schlecht gewesen sein muß - ebenso wie bei zwei von 16 Glühweinen vom Weihnachtsmarkt. Bei anderen war der Grundwein "gammelig", schlecht gelagert oder der Glühwein hoffnungslos überkocht. Nach der sensorischen Verkostung bekamen nur fünf von 21 Glühweinen das Prädikat "gut" oder "befriedigend", acht waren "gerade so trinkbar", der Rest indiskutabel. Übrigens nehmen auch die amtlichen Lebensmittelkontrolleure gern mal eine Glühwein-Probe, um herauszufinden, ob das Heißgetränk auch mindestens sieben Prozent Alkohol hat. Das ist nämlich so vorgeschrieben.
Doch die eigentliche Faszination des Glühweins läßt sich nicht in Zahlen fassen. Sie besteht ja vielmehr darin, bei frühlingshaften Temperaturen im Wintermantel in der Fußgängerzone zu stehen und eine Tasse entgegenzunehmen, bei der offenbar aufgrund einer Gesetzmäßigkeit immer der Henkel klebrig sein muß. Dann ist der Glühwein zunächst viel zu heiß (damit die Zungenspitze vom ersten Nippen auch mindestens eine halbe Stunde lang nachglüht), von einer Sekunde auf die nächste aber plötzlich eiskalt. Was die Wirkung angeht, macht der Glühwein-Trinker grundsätzlich drei Phasen durch: zunächst wird die Zunge schwer, dann wird man langsam müde und spätestens um acht will man ganz dringend nach Hause ins Bett. Vor dem Schlafengehen empfieht sich allerdings dringend noch die Einnahme zweier Aspirintabletten. Zum Glück geht's dem Sommer entgegen...


Replies: 1 Comment

on Thursday, December 9th, flux said

wie harald schmidt mal so schön sagte: "Weihnachtmärkte..., erkennt man am Geruch von Erbrochenem und Glühwein"

guter artikel :)

home
archiv
curt goetz

hoax liste
how stuff works
deep purple fansite

darwin awards
nutzloses (?) wissen
stella awards

nicht lustig
virtuelle carrerabahn
ivy's bar

November 2004
SMTWTFS
 123456
78910111213
14151617181920
21222324252627
282930    

Valid XHTML 1.0!

Powered By Greymatter